"Zwiegespräch mit der Theiß" - von Maria Fendler

Rudolfsgnad, am 29. Mai 2002

„Da bist du ja wieder, ich habe dich vermisst“, sagt die Theiß, wie zu einer streunenden Katze, die den Weg wieder nach Hause gefunden hat.

„Ja, Theiß, nach bald 60 Jahren stehe ich wieder an deinem Ufer. Eine lange Zeit.

„Ach, 60 Jahre“, sagt sie. „Du bist wieder nach Hause gekommen, in Deine Heimat. Das ist gut so.“

„Nein, Theiß, meine Heimat ist jetzt weit entfernt von Rudolf. In einem anderen Land, dort bin ich jetzt daheim.“

„Das kannst du doch auch mein Kind“, sagte sie. „Du denkst nein, Rudolf ist nicht mehr MEIN Rudolf. Nichts, aber auch gar nichts ist, wie es war. Hier leben jetzt Menschen, deren Sprache ich nicht verstehe. Keine Kirche in der Mitte des Dorfes. Keine Maulbeerbäume. Keine Weingärten. Keine Gräber mehr.

So viel Schmerzliches ist geschehen.

Wenn du durch die Gassen gehst, suchen Deine Augen nach Vertrautem. Vergebens. Du möchtest weinen.

Mein Gott, denkst Du, alles ist anders. Vieles ist nicht mehr.

Warum bin ich hergekommen?“

„Nein, meine HEIMAT ist Rudolf nicht mehr!“

„Sei ehrlich zu dir,“ sagt die Theiß. „Rudolf ist nicht mehr Deine Heimat? Wo du heute auch lebst, wie gut es dir geht, du kannst Rudolf niemals aus deinem Herzen herausschneiden.

Hier bist du geboren, hier hat dein Leben begonnen. Kindheit, das war Rudolf.

Frag doch nicht immer, warum ist  nichts mehr, wie es war.

Rudolf ist in Dir drin – bewahre es weiterhin, auch wenn du nicht begreifst warum!“